Sie lernen in der Geschichte zu diesen Hörbeispielen ein 1900 hergestelltes Piano des Klavierbauers F. J. Ackermann aus Stuttgart kennen. Diese Marke existierte laut dem Atlas der Pianonummern von 1882 bis 1932. In 50 Jahren baute Ackermann 11.000 Klaviere. Das sind Stückzahlen aus der Hochzeit des Klavierbaus in Zentraleuropa um 1900. Von vergleichbaren und noch höheren Zahlen liest man heute nur noch aus Japan, Indonesien, Korea und China.
Das Klavier aus unserem Hörbeispiel fällt sofort positiv auf. Es ist ein Schmuckstück für jedes Wohnzimmer!
Das Klangmöbel ist eine schöne Umschreibung des Klaviers. Diese Formulierung beschreibt genau genommen den Design-Prozess: Um den Klangkörper herum wird ein Möbel, der so genannte Umbau, angebaut.
Die Absicht dieser Verkleidung als Mobiliar bestand darin, dass das Musikinstrument Pianoforte direkt im Wohnzimmer einen zu den anderen Möbeln gleichwertigen Platz erhalten sollte. Genau genommen sollte die Musik und vor allem das Klavierspiel als Kulturgut inmitten des Lebensraums der (bürgerlichen) Menschen einen angemessenen Raum erhalten. Und so steht bis heute das Klavier ganz allgemein für Kultur. Gerne spreche ich davon, dass das Klavier eine Visitenkarte für Kultur ist. Die erwünschte Schlussfolgerung lautet: Wer ein Klavier besitzt, der hat Kultur! Daher stehen die Klaviere häufig an bevorzugten Plätzen in der Wohnung, die für alle sichtbar und einsehbar sind. Was lernen wir daraus? Die Klavierbauer in der Zeit von Mitte bis Ende 1800 waren noch ganzheitlich orientiert, kreativ und auch mutig genug, um eigene Wege zu gehen. Sie konzipierten und produzierten nicht nur Klaviere, sondern sie positionierten darüber hinaus die Klaviermusik im Lebensraum der Menschen ihrer Zeit! Aus der Sicht des Klaviermarketings ist das geradezu vorbildlich.
Schon beim Probespielen in verstimmten Zustand fällt der Bass auf. Achten wir beim zweiten Probespielen des gestimmten Instruments gezielt auf den Bass, so bekommen wir den Ersteindruck bestätigt. Warum klingt der Bass so gut? Um das herauszufinden, werfen wir einen Blick unter den Spieltisch auf die Konstruktion des Bassstegs. Häufig verwenden Klavierbauer eine so genannte Bassbrücke, um den Bass klanglich zu optimieren. Das ist hier nicht der Fall. Die Länge der Basssaiten optimierte der Klavierbauer F. J. Ackermann durch eine entsprechende Schräge, die nämlich die gesamte zur Verfügung stehende Breite des Klaviers ausnutzt. Zum Erreichen des besseren Klangs hat er den Basssteg vom Rand weiter entfernt. Dort kann nämlich der Resonanzboden besser schwingen und daher der Bass noch stärker auf uns wirken!
Um noch einmal auf die oben angeführte Entwicklung des Klavierbaus zurückzukommen: Aktuell sind die Verkaufszahlen für Klaviere in Europa stark rückläufig. Falls die Klavierhersteller aus unserer Region nicht schon längst aufgegeben haben, mussten alle verbliebenen Produzenten einen Umsatzrückgang von 70 Prozent und mehr hinnehmen. So richtig gewehrt hat sich gegen den Niedergang niemand. Positiv aufgefallen ist im Zusammenhang mit dem Marketing ab 1900 eigentlich nur Steinway. Dass der Steinway-Flügel auf den Bühnen der Welt Standard wurde, ist eine Leistung des Marketings! Anfang 1900 fanden noch einige interessante Experimente zur Weiterentwicklung des Pianos statt. Doch deren Zeit war noch nicht reif. Es folgte unter dem Regime der Nationalsozialisten der Niedergang der Kultur. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich das so genannte Kleinklavier mit einer Höhe von 1,10 m und weniger durch. Das Konzept lautete: Materialeinsparung zu Gunsten der Gewinnoptimierung. Beim Endkunden angekommen ist die Botschaft des Qualitätsabbaus. Für den Laien mag die Nachricht überraschend sein, dass sich heute nicht nur die verbliebenen Klavierhersteller aus Deutschland sondern auch die besten Namen wie Steinway (aktueller Eigentümer: John Paulson, Hedgefondsmanager) oder Bösendorfer (aktueller Eigentümer: Yamaha) meist schon länger nicht mehr selbst gehören, bzw. intensiv auf der Suche nach einem Käufer sind. Für den deutschen Premium-Klavierhersteller Schimmel endete die Suche im Januar 2016 aus seiner Sicht erfolgreich. Man konnte sich für 26,6 Millionen Euro (weniger als ein Zehntel des Kaufpreises für Steinway im Jahr 2013) an den größten chinesischen Klavierhersteller Pearl River verkaufen. Der expandierende chinesische Markt scheint alles zu schlucken. Die klassische Musik und vor allem das Klavier erleben dort aktuell einen regelrechten Höhenflug. Dem Vorbild Lang Lang eifern heute schon über 50 Millionen Chinesen am Klavier nach. Man sagt, es soll in China noch einen offenen Markt von 30 Millionen Klavierinteressenten geben. Das erklärt das Bestreben z.B. von Steinway, über deren Werbeträger, den bereits erwähnten chinesischen Pianisten Lang Lang, auf dem neuen Massenmarkt in China Fuß fassen zu wollen.
Genau genommen erfordert es nicht viel Phantasie, sich einfach mal den Rest der Welt anzusehen. China bekommt ja als bevölkerungsreichstes Land aktuell Konkurrenz von Indien, das laut Wikipedia in 5 Jahren China überholen könnte. Das ist auf Weltkarte der Klavierbauer noch weitgehend ein schwarzes Loch. Weitere offene Marktplätze könnten Afrika sowie die Arabische Welt inklusive der Arabischen Halbinsel sein. Am Beispiel Chinas könnte man studieren, wie man einen Höhenflug auslöst und im Idealfall möglichst lange dauern lässt. Mit diesem Muster könnte man Schritt für Schritt die Welt für das Klavier erobern. So könnte ein erfolgreiches globales Marketing aussehen, wenn man die Kontrolle über das eigene Unternehmen behält. Wer aber schon heute aufgrund mangelnder Hoffnung, fehlender Phantasie und vor allem aufgrund offensichtlicher Beziehungslosigkeit zur eigenen Kultur den Kopf in den Sand steckt, wird an derartigen Prozessen im besten Fall nur noch als Befehlsempfänger teilhaben. Die Möglichkeit zur Gestaltung der eigenen Zukunft ist dauerhaft verwirkt. Das Vorbild für die eigene Kultur ist katastrophal. Wilhelm Schimmel wird weiterhin als Premiummarke unter dem Label Made in Germany verkauft werden. Aber das stimmt nicht mehr. Denn die Eigentümer sitzen seit Januar 2016 in Guangzhou in China. Das sollten Käufer in Zukunft berücksichtigen, die mit ihrem Kauf den Standort Deutschland stärken wollen. Seitdem F. J. Ackermann Klaviere gebaut hat, hat sich die Welt der Klavierbauer grundlegend geändert. Außer den japanischen Firmen Yamaha und Kawai hat es die Branche vor allem in Deutschland verpasst, sich die für eine erfolgreiche Zukunftsgestaltung notwendigen Kompetenzen anzueignen. Ein ähnliches Muster kann man aktuell bei den deutschen Autobauern beobachten, wenn es um die Entwicklung des E-Autos sowie um die Umstellung der Produktion auf das selbst fahrende Auto geht. Die deutschen Klavierbauer hätten im Geiste ihrer Vorfahren die von den Menschen so dringend erwartete Antwort auf die Frage leisten können: Wie kann man Vergangenheit und Zukunft harmonisch in ein Produkt integrieren?